Verursacht Passivrauchen (ETS) Lungenkrebs?

Verursacht Passivrauchen (ETS) Lungenkrebs?

Prof. K. Überla, Universität München: Ein Plädoyer für die Epidemiologie als unabhängige Wissenschaft

Rauchen ist ohne Zweifel gesundheitsschädlich. Es verursacht in Deutschland mehr als 30000 Todesfälle an Krebs, vor allem Lungenkrebs. Ein substantieller Teil des Risikos von Herz-Kreislauf-Krankheiten ist durch Rauchen bedingt. Aktivrauchen über längere Zeit verkürzt das Leben um 5 bis 8 Jahre. Eine deutliche Verringerung der Zahl der Raucher in der Bevölkerung würde eine der wichtigsten vermeidbaren Todesursachen wesentlich reduzieren. Dazu muß der Anteil der Jugendlichen, die zu rauchen beginnen, vermindert werden.

Die Frage nach den Folgen des Passivrauchens (Environmental Tobacco Smoke = ETS) ist demgegenüber komplizierter und schwer durchschaubar. Die Belästigung von Nichtrauchern durch ETS ist sicher. Fest steht auch, daß Passivrauchen gesundheitsschädlich sein kann, z. B. bei Kleinkindern und Menschen mit empfindlichen Atemwegen, wenn auch im Vergleich zum Aktivrauchen in abgeschwächter Form. Die prinzipielle Möglichkeit, daß ETS aufgrund der im Passivrauch enthaltenen kanzerogenen Stoffe bei Nichtrauchern Lungenkrebs erzeugen könnte, ist unstrittig.

Die Epidemiologie hat als zuständige Wissenschaft die Frage zu beantworten, in welchem Ausmaß tatsächlich gesundheitliche Schäden bei Nichtrauchern durch ETS auftreten und inwieweit vor allem Lungenkrebs in der Bevölkerung tatsächlich durch ETS verursacht wird und auch auftritt.

In der Bundesrepublik starben im Jahr 1995 etwa 28900 Männer und 8100 Frauen an Lungenkrebs (1). Die Zahl der Frauen hat in den letzten Jahren zugenommen. Die Zeit zwischen Beginn des Rauchens und dem Auftreten von Lungenkrebs beträgt 15 bis 30 Jahre. Lungenkrebs ist eine Krankheit, die rasch zum Tode führt. Nach der Erstdiagnose tritt der Tod nach wenigen Monaten bis zu zwei Jahren ein.

Kleine Risiken, die erst lange nach einer Exposition zum Ausbruch einer Krankheit führen, werden „weak associations“ genannt. Ihre Beurteilung ist von grundsätzlicher Bedeutung für die Epidemiologie als Wissenschaft, sie ist aber auch schwierig (2). Beim Vorliegen solcher „weak associations“ ist es im Regelfall nicht möglich, annähernd sicher zu sein, daß eine statistische Assoziation als Verursachung interpretiert werden kann. Meist bleibt nur die Aussage:
Wir wissen es nicht.

Im Fall ETS und Lungenkrebs wird die Beurteilung eines kausalen Zusammenhangs zusätzlich erschwert, weil die Frage mit Vorurteilen und erheblichen Emotionen belegt ist. Die kontroversen Meinungen werden nicht durch wissenschaftlichen Disput, sachliche Argumente und durch das Offenlegen der Daten gelöst, wie dies wissenschaftlichen Grundsätzen entspricht. Es dominieren Gremienentscheidungen wissenschaftlicher und staatlicher Organisationen, die durch Mehrheiten ausgewählter Repräsentanten zustande kommen. Wie richtig und wie falsch solche Mehrheiten sein können, zeigt die Wissenschaftsgeschichte. Man denke nur an den Consensus omnium vor wenigen Jahren über die Genese des Ulcus ventriculi, an die sich wandelnden Hypothesen zur Genese des Herzinfarkts oder an die Verursachung und Verbreitung des „Rinderwahnsinns“ und seine Folgen für den Menschen.

Wissenschaftler, die nicht der jeweils herrschenden Meinung zustimmen ? daß etwa ein Substanzgemisch beim Menschen eine schädliche Wirkung hat ? stehen leicht auf verlorenem Posten, weil sie nicht der jeweiligen „political correctness“ entsprechen. Kürzliche Äußerungen namhafter Persönlichkeiten im Deutschen Ärzteblatt ( 3 ) zu meiner Auffassung, daß auf der Basis der heute vorliegenden empirischen epidemiologischen Evidenz ein kausaler Zusammenhang zwischen ETS und Lungenkrebs nicht hinreichend belegt und daß das Errechnen von Lungenkrebstoten durch ETS ein fiktives Unternehmen mit zweifelhafter Glaubwürdigkeit sei, zeigen dies wieder deutlich.

Der Fortschritt der Wissenschaft lebt vom Dissens. Als Professor und Beamter habe ich zu Fachfragen mein unabhängiges Urteil abzugeben. Ich bin dabei der wissenschaftlichen Wahrheit verpflichtet, auch wenn sie nicht gefällt und nicht der „political correctness“ entspricht. Denjenigen, die mir unterstellen, finanzielle Beziehungen zur Zigarettenindustrie zu unterhalten, sei gesagt, daß dies nicht zutrifft. Ich verteidige eine unabhängige Epidemiologie als Wissenschaft gegen die Experten der Weltverbesserung in institutionalisierten Gremien.

Im folgenden werden zunächst einige epidemiologische Begriffe erläutert und die grundsätzlichen Grenzen der Epidemiologie als Wissenschaft und ihre Erkenntnismöglichkeiten aufgezeigt. Dann werden typische Studien zur Frage ETS und Lungenkrebs beschrieben, mit ihrer Kritik aus wissenschaftlicher Sicht. Die Zusammenfassung der derzeitigen epidemiologischen Evidenz wird analysiert und kritisch bewertet.

Grundlegende epidemiologische Begriffe

Die Epidemiologie beschäftigt sich mit der Verteilung und Ausbreitung von Krankheiten und Gesundheit in Bevölkerungen. Sie versucht aber auch, Ursachen für Krankheiten einzugrenzen und Maßnahmen zur Verbesserung und Vorsorge zu entwickeln. Einerseits ist Epidemiologie eine Wissenschaft, andererseits ein Unternehmen zur Weltverbesserung. Dieser Spagat war nie einfach. Man muß genau unterscheiden, ob man eine epidemiologische Aussage als Wissenschaftler trifft oder mit dem Ziel, den Zustand der Welt zu verbessern.

Die wichtigsten epidemiologischen Studientypen sind:

  1. Kohortenstudien
  2. Fall-Kontroll-Studien, die anfällig für Fehlaussagen sind und
  3. randomisierte kontrollierte Studien, die eine Kausalaussage ermöglichen, aber im Bereich ETS und Lungenkrebs aus verständlichen Gründen nicht vorliegen.

Von den bisher publizierten etwa 45 bis 50 Studien sind nur 5 Kohortenstudien, die anderen Fall-Kontroll-Studien. Nur die Kohortenstudien erlauben einwandfreie Schätzungen des zurechenbaren Risikos, die Datenlage ist also unbefriedigend.

Die Epidemiologie kennt vier wesentliche Risikomaße, die zusammenhängen:

  1. Inzidenzen in der exponierten und nicht exponierten Gruppe.
  2. Das Relative Risiko (RR) als Bruch von Inzidenzen.
  3. Die Odds Ratio (OR) als Näherung an das RR und
  4. das zurechenbare Risiko als Differenz der Inzidenzen der exponierten und der nicht exponierten Gruppe.

Inzidenzen sind nur prospektiv über Kohortenstudien zu gewinnen, d.h. das Relative Risiko kann ebenfalls nur aus prospektiven Studien ermittelt werden. Da dies aufwendig ist, wird bei Fall-Kontroll-Studien als Risikomaß die Odds Ratio verwendet, die auf einem Kunstgriff beruht, der eine Näherung an das Relative Risiko (RR) erlaubt. Odds Ratios geben nur die halbe Wahrheit wieder. Die Inzidenz ist nicht mehr enthalten, seltene Risiken haben die gleiche OR wie häufige Risiken. Das Risikomaß, das man eigentlich braucht, ist das zurechenbare Risiko, das angibt, wieviel Exponierte im Vergleich zu einer Gruppe Nichtexponierter zusätzlich an Lungenkrebs durch ETS erkranken und sterben. Dieses zurechenbare Risiko ist nur durch Kohortenstudien feststellbar. In den vorhandenen Studien und Analysen wird jedoch ganz überwiegend nur die mehr oder weniger irreführende OR bestimmt und neuerdings oft in Prozent ausgedrückt, was für Laien zusätzlich einen falschen Eindruck vermitteln muß.

Grenzen der Erkennbarkeit durch Epidemiologie

Wie jede Wissenschaft hat auch die Epidemiologie Grenzen der Erkennbarkeit und muß diese offenlegen. Als Wissenschaftler darf man nur so weit gehen, wie die Fakten es tragen und darf die Daten nicht mißbrauchen, um Ziele zu erreichen. Die in der Öffentlichkeit breit diskutierten Fälle von Manipulation und Betrug in wissenschaftlichen Studien sprechen eine deutliche Sprache. Die Irreführung der Öffentlichkeit über die Grenzen epidemiologischer Aussagen kann im Ergebnis nahe an den Effekt einer Manipulation von Daten und an Wissenschaftsbetrug heranreichen und ist grundsätzlich genauso zu beurteilen.

Die Grenzen für die möglichen Aussagen der wissenschaftlichen Epidemiologie sind vielfältig und enger, als manche meinen. Die wichtigsten Grenzen für die hier interessierende Frage sind folgende:

Die Genauigkeit und die Validität der Expositionsschätzungen und der Zielkritierien sind niedrig. Retrospektive Expositionsschätzungen sind extrem ungenau und prospektive gibt es kaum. Die Zielgrößen (endpoints) werden ungenau erfaßt und sind unspezifisch. Wir können sehr viel genauer messen, als es handlungsrelevant ist ? zum Beispiel die Zusammensetzung des ETS ? und erzeugen damit eine Scheingenauigkeit. Wir können sehr viel genauer rechnen ? zum Beispiel ORs ? als beobachten. Die Seltenheit der Ereignisse erfordert große Fallzahlen. Wir können aber nicht eine Million Menschen ohne Ausfälle und Fehler über Jahrzehnte unter genauer Kontrolle halten. Sehr kleine Risiken liegen daher unterhalb der Grenze der Erkennbarkeit (4) und Inzidenzen kleiner als 1:100000 oder 1:1000000 sind nicht mehr reproduzierbar, weil die Beobachtungsfehler gleich groß oder größer sind als die Effekte.

Die These der Verursachung von Lungenkrebs durch ETS basiert auf einer typischen „weak association“, die schwer beurteilbar ist (2). Bei möglicher Multikausalität ? Lungenkrebs kann zahlreiche Ursachen haben ? ist es praktisch ausgeschlossen, in einer Studie alle möglichen Faktoren angemessen zu berücksichtigen, insbesondere wenn ein einziger Faktor wie das Aktivrauchen quantitativ als Ursache dominiert. Schließlich hat eine statistisch signifikante Assoziation nichts mit einem Kausalschluß zu tun, vor allem, wenn hunderte „Tests“ am gleichen Material durchgeführt werden, was allein zufällig zu 5% „statistisch auffälligen“ oder zu 1% „signifikanten“ Ergebnisse führen muß, die dann allein publiziert werden. Namhafte Statistiker und Epidemiologen halten Odds Ratios von 2 ? 3 nicht für aussagefähig (5). Nahezu alle publizierten ORs für ETS und Lungenkrebs liegen aber niedriger. Ein wichtiges Problem ist das sogenannte Bias ? die Abweichung eines Schätzwerts vom wahren Wert aus systematischen, aber nicht berücksichtigten Gründen. Es gibt viele Arten von Bias (Selection Bias, Interviewer Bias, Recall Bias, Wish Bias u.a.), von denen der Mißklassifikation hier eine besondere Rolle zukommt. Die sogenannte differentielle Mißklassifikation ? die unterschiedliche fälschliche Zuordnung eines Rauchers zur Gruppe der Nichtraucher bei Prüf- und Vergleichsgruppe ? kann bis zu 10% betragen und beeinflußt das Ergebnis dann merklich (6, 7). Bias und Confounding durch Unterschiede in den Lebensstilen (Gesundheitsverhalten, soziale Schichten, Nahrung) können beträchtlich sein (8) und werden oft nicht berücksichtigt. Metaanalysen, in denen meist eine substantielle Zahl von Studien mit Bias und Confounding enthalten sind, haben deswegen als Erwartungswert der OR nicht mehr 1,00, sondern einen anderen Wert, der unbekannt ist und z.B. 1,3 betragen kann. Dies würde mit den heute gängigen publizierten Ergebnissen von Metaanalysen gut übereinstimmen, ohne daß es inhaltlich irgend etwas bedeutet. Im übrigen ist es zweifelhaft, ob man Metaanalysen auf die vorhandenen, höchst heterogenen Studien wissenschaftlich sinnvoll anwenden kann, da es sich nicht um kontrollierte Studien mit nahezu gleichen Merkmalen und Zielkriterien handelt.

Kann man als Epidemiologe also gar nichts aussagen? Keineswegs. Bradford-Hill ( 9 ) hat bereits vor Jahrzehnten Kriterien für Kausalschlüsse angegeben, von denen die wichtigsten erfüllt sein müssen, wenn eine Kausalbeziehung aufgrund epidemiologischer Untersuchungen angenommen werden darf. Diese sind in modifizierter Form (4): Konsistenz, Stärke, Spezifität der Assoziation, Dosis-Wirkungs-Beziehung, valide Bestimmung von Exposition und Effekt, sorgfältiger Ausschluß von Bias und Confounding, statistische Signifikanz, Effekt einer Intervention und biologische Plausibilität. Es bleibt zu prüfen, inwieweit die vorhandenen Studien einen Kausalschluß aufgrund dieser Kriterien erlauben.

Einige typische Studien

Die Studie von Trichopoulos et al. (10,11) wurde 1981 und 1983 publiziert. Sie war die erste Fall-Kontroll-Studie, die die Diskussion in Gang gebracht hat. Es wurden 77 nichtrauchende Frauen mit Lungenkrebs hinsichtlich der Rauchgewohnheiten des Ehemanns verglichen mit 225 nichtrauchenden Frauen mit anderen Diagnosen. Die errechnete OR war 2,4 bei Frauen, die mit Männern verheiratet sind, die weniger als eine Packung pro Tag rauchen, und 3,4 bei stärker rauchenden Ehemännern.

Die Studie ist ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie eine Fall-Kontroll-Studie nicht durchgeführt werden darf und zu falschen Ergebnissen führen muß. Die Fälle stammen aus einer Krebsklinik, die Kontrollen aus einer orthopädischen Klinik, es liegt daher ein systematischer Fehler (Bias) vor. Derselbe Arzt wählte die Kontrollen aus und kannte das Ziel der Studie (Interviewer Bias). Krebskranke erinnern sich anders an eine Exposition durch ETS vor Jahrzehnten als Patienten aus der Orthopädie (Recall Bias), weil sie eine Erklärung für ihr tödliches Schicksal suchen. Adenokarzinome, der häufigste histologische Typ bei Frauen, wurden ausgeschlossen; die Histologie ist bei den übrigen Fällen nur in 35% vorhanden. Die Exposition wurde praktisch nicht erfaßt. Mit einem Raucher verheiratet zu sein beinhaltet zusätzlich andere Risiken als die Exposition mit ETS allein und ist kein valider Indikator für die Exposition mit ETS. Confounding?Faktoren wie die Exposition am Arbeitsplatz und die Nahrung wurden nicht berücksichtigt. Die errechnete OR ist in der gleichen Größenordnung wie die errechnete OR für Aktivrauchen in dieser Studie. Das ist nicht plausibel. Nicht alle Fall-Kontroll-Studien sind so schlecht wie diese, aber bei vielen anderen bestehen die gleichen Probleme. In die Zusammenfassung von Studien geht diese in keiner Weise ernst zu nehmende Studie natürlich mit ein und erhöht in der Metaanalyse die errechnete OR.

Die Studie von Hirayama et al. (12,13,14,15) die in den Jahren 1981,1983 und 1984 publiziert wurde, ist die beste bekannte Kohortenstudie mit einer positiven Assoziation zwischen ETS und Lungenkrebs. Von 91540 verheirateten nichtrauchenden Frauen 1965 in Japan starben bis 1980 200 an Lungenkrebs. Beim Vergleich der Frauen mit nichtrauchenden Männern gegenüber solchen mit Männern, die mehr als 20 Zigaretten pro Tag rauchten, war das relative Risiko 1,79. Es bestand eine signifikante Dosis?Wirkungs-Beziehung. Warum ist diese Studie nicht aussagefähig?

Die Studie sollte alle denkbaren Hypothesen zwischen den erfaßten Merkmalen aufspüren, weit über 100 Hypothesen wurden getestet. ETS und Lungenkrebs war eine von vielen Sekundärhypothesen, die herausgefiltert wurden. Die Studie kann diese Hypothese daher bestenfalls generieren, sie aber nicht beweisen. Die einbezogenen Fälle unterliegen einer unbekannten Selektion. Sie unterscheiden sich deutlich von der Altersverteilung der Frauen in Japan im Jahr 1965 (16). Die Exposition mit ETS wurde nicht valide bestimmt. Sie erfolgte ein einziges Mal im Jahr 1965 durch die Aussage einer Frau, daß sie Nichtraucher sei und ihr Mann Raucher. Das wurde nicht überprüft und kann stimmen oder nicht. Die Exposition am Arbeitsplatz blieb ebenso unberücksichtigt wie Nahrung oder Umweltbelastung. Die Zielgröße ? Tod an Lungenkrebs ? wurde nicht valide bestimmt. Sie stammt aus den Todesursachenbescheinigungen, die zu einem hohen Prozentsatz falsche Diagnosen enthalten. Eine Autopsie gibt es nur für 23 der 200 Lungenkrebsfälle (11,5%), Die histologische Diagnose ist aber entscheidend. Es gibt keine Fallberichte über die 200 Fälle, nahezu nichts ist über sie bekannt. Mißklassifikationen wurden nicht berücksichtigt. Sie sind aber wahrscheinlich, weil 1965 Rauchen bei japanischen Frauen eine Seltenheit und diskriminierend war.

Der Kern der Information, auf dem die Ergebnisse der Studie beruhen, ist, daß im Jahr 1965 ? vor mehr als 30 Jahren ? 200 japanische Frauen einem Interviewer gesagt haben, sie seien Nichtraucher und ihr Mann Raucher ? was vorher und nachher für lange Zeit anders gewesen sein kann ? und daß die Todesursachenbescheinigungen dieser Frauen 15 Jahre später als Todesursache die Bezeichnung Lungenkrebs enthielten, was ebenfalls in einem hohen Prozentsatz fehlerhaft sein dürfte. Dies ist keine überzeugende, harte oder belastbare Datenbasis.

Wir haben diese Studie 1990 einer Reanalyse unterzogen (16) und konnten zeigen, daß unter Berücksichtigung des Selection Bias bezüglich des Alters, der besonderen Situation der Industriearbeiter, deren Frauen ein höheres Risiko haben, und einer gering angesetzten differentiellen Mißklassifikation die „signifikanten“ Effekte nicht mehr vorhanden sind. Ich habe damals Hirayama öffentlich aufgefordert, seine Originaldaten für eine Reanalyse zur Verfügung zu stellen. Er hat das abgelehnt. Wenn ein Physiker, Chemiker oder Forscher aus der medizinischen Grundlagenforschung dies verweigern würde, würde er mit Recht von der Scientific Community nicht mehr ernst genommen.

Es gibt derzeit vier weitere prospektive Kohortenstudien: von Garfinkel (17), Butler (18), Hole (19) und Cardenas (20). Keine kommt zu einer belastbaren positiven Aussage über eine Assoziation zwischen ETS und Lungenkrebs. Die große prospektive Studie der amerikanischen Krebsgesellschaft von Garfinkel (17) ist methodisch besser als die von Hirayama, hat aber kein signifikantes Ergebnis ebenso wie die Cancer Prevention Study II der American Cancer Society von Cardenas (20). Die Studien von Butler (18) und Hole (19) kommen ebenfalls zu keiner schlüssigen Aussage, die statistisch gesichert wäre. Sie sind mit erheblichen methodischen Fehlern belastet und haben so kleine Fallzahlen, daß man sie nicht ernst nehmen kann. Alle verfügbaren Kohortenstudien erlauben es also nicht, ein einigermaßen belastbares relatives oder zurechenbares Risiko anzunehmen. Bereits 1987 haben Reanalysen und kritische Bewertung nach dem damaligen Stand (21) die Frage eines Kausalzusammenhangs offen lassen müssen. Die gleichen fehlerhaften Studien werden aber noch heute in allen zusammenfassenden Bewertungen mitgeschleppt.

Die Studie von Fontham et al. (22, 23) wurde 1991 und 1994 publiziert. Sie ist nach meiner Meinung die beste bisher vorliegende Fall-Kontroll-Studie zur Frage ETS und Lungenkrebs. In diese multizentrische populationsbezogene Studie in den USA wurden 653 nichtrauchende Frauen mit histologisch gesichertem Lungenkrebs einbezogen. Ihnen wurden 1253 Kontrollen gegenübergestellt, die durch Telefoninterviews und Abgleich mit der Health Care Financing Administration gewonnen wurden. Zahlreichen Confounder wurden einbezogen. Cotinin im Urin wurde als zusätzlicher Indikator für das Rauchverhalten verwendet. Es wurde versucht, die histologische Diagnose durch einen Referenzpathologen zu verifizieren. Die Exposition wurde nach Haushalt, Arbeitsplatz und „social settings“ gegliedert. Das Ergebnis ist eine signifikante OR von 1,29 für nichtrauchende Ehepartner von Rauchern. In Untergruppen waren die ORs höher ? bis zu 3,25. Es bestand ein signifikanter Trend in der Dosisabhängigkeit. Die Autoren kommen zu dem Schluß, daß Passivrauchen bei lebenslangen Nichtrauchern das Risiko erhöht, Lungenkrebs zu bekommen.

Die gut angesetzte Studie ist aus folgenden Gründen in ihrer Aussagekraft deutlich eingeschränkt und nicht schlüssig: Ein Recall Bias ist anzunehmen. Nur 36,9% der Fälle wurden über die Exposition mit ETS selbst befragt, im übrigen nahe Verwandte. Die Kontrollen hatten keinen Krebs und erinnern sich anders an früheres Rauchen als Verwandte von Lungenkrebskranken. Die histologischen Diagnosen entsprechen nicht der Erwartung: Kreyberg Typ2 überwiegt statt wie sonst bei Frauen Typ1. Die Nichtübereinstimmung bei der Typisierung durch den Referenzpathologen wird nicht angegeben, sie dürfte nach Erfahrungen anderer Stellen bei 10% bis 20% liegen. Die Struktur der Confounder und ihre Wirkung ist aus der Publikation allein nicht beurteilbar. Eine differentielle Mißklassifikation ist nicht ausgeschlossen und kann gravierend sein. Der Cotininwert, der nur einmal nach der Diagnose bestimmt wurde, sagt über die früheren Rauchgewohnheiten vor mehr als 10 Jahren, die entscheidend sind, nichts aus. Die ursprünglich geplante und untersuchte Kontrollgruppe mit Kolonkarzinomen wurde aus unbekannten Gründen gestoppt und in der Auswertung nicht berücksichtigt. Dies ist ungewöhnlich, und es ist die Frage erlaubt, welche Auswirkungen ihre Einbeziehung auf die Ergebnisse haben würde; die wichtigsten Daten liegen vor und könnten ausgewertet und publiziert werden. Die Ausschöpfungsquoten bei den Fällen und Kontrollen sind unterschiedlich. Aus einer einzigen Region (Los Angeles/San Francisco) stammen 81% der Fälle, die Unterschiede zwischen den Zentren werden nicht offengelegt. Hervorzuheben ist, daß Fälle und Kontrollen aus unterschiedlichen sozialen Klassen stammen, was das Ergebnis bewirkt haben kann. Ein signifikanter Trend in der Dosisabhängigkeit ist für sich allein wenig überzeugend. Er könnte ein statistischer Artefakt sein. Da es sich um eine Fall-Kontroll-Studie handelt, kann ein zurechenbares Risiko aus dieser Studie nicht direkt bestimmt werden. Angesichts der zahlreichen methodischen Einwände ist die niedrige OR von 1,29, die weit unter einer einigermaßen ernstzunehmenden und belastbaren Grenze von 2 bis 3 liegt, nicht überzeugend.

Inzwischen sind weitere Fall-Kontroll-Studien von Bofetta et al. (24), Simonato et al. (25) und Jöckel et al. (26) bekannt geworden, ohne daß die Schlußpublikationen vorliegen. Sie haben in der Öffentlichkeit erhebliche Aufmerksamkeit gefunden.

Die Studie der IARC der WHO (25) mit 650 Lungenkarzinomfällen über 7 Jahre zeigt keine signifikante Assoziation zwischen ETS-Exposition und Lungenkrebs und soll nach Ablehnung der Publikation durch das British Medical Journal nun zum Peer Review beim Journal of the National Cancer Institute vorliegen. Nach Berichten im Economist (27) und im Wall Street Journal (28) hat die WHO sich genötigt gesehen, in einer Presseerklärung zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen (29). Die offenkundig gewordenen Schwierigkeiten bei der Publikation der Daten der WHO und die Beibehaltung der Nullhypothese sprechen für sich.

Die Arbeit „Lungenkrebsrisiko durch berufliche Exposition ? Passivrauchen“ von Jöckel et al. (26) faßt zwei Studien zusammen, eine vom BIPS in Bremen und eine vom Institut für Epidemiologie der GSF. In der BIPS?Studie wurden 71 nichtrauchende Männer und Frauen mit Lungenkrebs 236 nichtrauchenden Kontrollen ohne Lungenkrebs gegenübergestellt. Die OR für die Gesamtexposition durch ETS ist mit 2,09 (CI: 1,02 ? 4,28) knapp auf dem 5%-Niveau auffällig. Die OR für die ETS?Exposition in der Kindheit, durch nichtrauchende Partner, aus allen anderen Quellen und am Arbeitsplatz liegt jeweils weit im Zufallsbereich. In der Studie des Instituts für Epidemiologie der GSF wurden 304 nichtrauchende Männer und Frauen mit Lungenkrebs 1423 Kontrollen gegenübergestellt. Die OR für die Gesamtexposition liegt hier mit 1,41 (CI: 0,98 ? 2,01) knapp im Zufallsbereich. Für die Exposition in der Kindheit, durch nichtrauchende Partner, und aus allen anderen Quellen liegen die ORs weit im Zufallsbereich. Lediglich die OR für die ETS?Exposition am Arbeitsplatz ist mit 1,97 (CI: 1,04 ? 3,71) knapp statistisch auffällig. Beide Studien werden hinsichtlich einer einzigen Fragestellung ? der ETS-Exposition am Arbeitsplatz ? durch eine Metaanalyse zusammengefaßt. Das Ergebnis ist für die höchste Exposition mit einer OR von 1,95 ( CI: 1,11 ? 3,42) statistisch auffällig. Die Autoren kommen zu dem Schluß, daß die beiden Studien nahelegen, daß eine hohe Exposition mit ETS am Arbeitsplatz mit einem erhöhten Risiko für Lungenkrebs verbunden ist.

Deutliche Schwachstellen der beiden Studien und ihrer Zusammenfassung sind erkennbar und schließen es weitgehend aus, daß in diesen Studien bei Anlegen strenger wissenschaftlicher Kriterien ein substantieller und belastbarer Beitrag zur anstehenden Frage enthalten ist. Die gleichen Fälle und Kontrollen werden mehrmals verwendet für die Gesamtexposition, die Exposition in der Kindheit, durch rauchende Partner, aus anderen Quellen und am Arbeitsplatz. Es wird jedoch nicht für multiple Tests korrigiert, wie dies nötig ist. Die statistisch auffälligen Ergebnisse würden dann verschwinden. Andere bekannte Risikofaktoren für Lungenkrebs wie Radon, Belastung durch Kanzerogene im Berufsleben und am Arbeitsplatz, die Umweltbelastung und andere werden nicht berücksichtigt. Dies ist um so unverständlicher, als die Studie als Arbeitsplatzstudie geplant und durchgeführt wurde und Chrom, Cadmium und Radon als Confounder vorhanden sind. Soziale Unterschiede zwischen Kontrollen und Fällen und Unterschiede im gesundheitsrelevanten Lebensstil (Ernährung) könnten das Ergebnis erklären. Interviewer-Bias und differentielle Mißklassifikation werden nicht einbezogen. Die Ergebnisse beruhen auf sehr kleinen Fallzahlen. Für die Belastung durch ETS am Arbeitsplatz ? nach Meinung der Autoren das wichtigste Ergebnis ? stehen in der Gruppe mit relevanter, aber kleiner ETS-Belastung nur 6 (BIPS) + 13 (GSF) = 19 Fälle mit Lungenkrebs zur Verfügung; das Ergebnis liegt im Zufallsbereich. Bei der Gruppe mit hoher ETS- Belastung, die als einzige in der Metaanalyse ein vom Zufall abweichendes Ergebnis hat, beruht dies auf 5 (BIPS) + 16 (GSF) = 21 Fällen insgesamt. Die Metaanalyse greift eine einzige Hypothese auf, die nach den Resultaten der Einzelauswertungen am ehesten zu einem Ergebnis führen kann. Ein Protokoll für die Metaanalyse wird nicht erwähnt, gehört aber zum Stand der Technik. Die errechneten ORs sind kleiner als 2 und damit nicht überzeugend. Im übrigen sind die Daten dieser Studie ein wesentlicher Teil der Studie von Bofetta et al. (24), die kein signifikantes Ergebnis hatte. Es dürfte schwierig sein, die widersprüchlichen Ergebnisse beider Analysen in Einklang zu bringen. Die Einwände in ihrer Gesamtheit zeigen, daß auch diese beiden Studien keine substantielle empirische Evidenz beitragen zur Frage, ob ETS tatsächlich Lungenkrebs hervorruft.

Zusammenfassung epidemiologischer Studien

Für die Frage des Zusammenhangs zwischen ETS-Exposition und der Verursachung von Lungenkrebs liegen inzwischen mehr als 30 Zusammenfassungen und Review-Übersichten der jeweils verfügbaren epidemiologischen Studien mit unterschiedlichen Ergebnissen vor. Dabei werden in der Regel sogenannte Metaanalysen eingesetzt. Metaanalysen fassen die empirische Evidenz aus zahlreichen Studien im gleichen Gebiet zu einer einzigen Maßzahl mit zugehörigem Konfidenzintervall zusammen. Die einzelnen Studien werden gewichtet und gepoolt, man erhält große Fallzahlen und damit leichter statistische „Signifikanz“. Korrekte Metaanalysen nach heutigem Qualitätsstandard sind aufwendig. Sie erfordern mehrere vorab festzulegende Schritte und entsprechende Verfahrensfestlegungen z.B. bezüglich Literatursuche, Kriterienraster für die Aufnahme von Studien, Datenzugang, statistischen Verfahren und Interpretation.

Die Grenzen für aussagefähige Metaanalysen bei epidemiologischen Beobachtungsstudien sind eng, wie beispielsweise Shapiro (30) in einem anderen Anwendungsfeld nachgewiesen hat. Die Auswahl der Studien ist entscheidend. Was man hineinsteckt, bekommt man heraus. Wenn alle Studien das gleiche Bias haben ? z.B. als Proxi-Maß für die ETS?Exposition bei nichtrauchenden Frauen die Frage verwenden, ob sie mit einem rauchenden Ehemann verheiratet sind oder nicht ? kann dies ein systematischer Fehler sein und nicht eliminiert werden. Die Addition von schlechten Studien kann nicht zu richtigen Ergebnissen führen. Falsch plus falsch ist nicht gleich richtig. Man kann auch nicht Äpfel mit Birnen addieren. Metaanalysen können nach heutigem Stand der Wissenschaft dann eingesetzt werden, wenn ausschließlich kontrollierte Studien mit gleichen oder ähnlichen Zielgrößen und Protokollen einbezogen werden. Solche liegen bei unserer Frage nicht vor. Bei einer Kombination von Fall-Kontroll-Studien mit Kohortenstudien ist der Einsatz der Metaanalyse methodisch umstritten. Man kann durch eine Metaanalyse vieler kleiner Studien, die alle nicht aussagefähig sind, künstlich hohe Fallzahlen erzeugen, mit einem notwendigerweise technisch signifikanten Resultat, das dann aber ebensowenig bedeutet, wie wenn ein Zeitungsleser sich mehrere Exemplare derselben Zeitung kauft, um sicher zu sein, daß die Information richtig ist. Wenn man nach der Studienqualität schichtet, erhält man unterschiedliche Ergebnisse. Das gleiche gilt für verschiedene Verfahren der Metaanalyse. Sensitivitätsanalysen können ein Gefühl für die Stabilität der Ergebnisse liefern. Metaanalysen fügen der vorhandenen Evidenz keine einzige neue Beobachtung hinzu. Sie eröffnen vielmehr eine neue Dimension der Interpretation und auch der Manipulation von Daten. Aus der Vielzahl der verfügbaren Metaanalysen und Zusammenfassungen können hier nur wenige ausgewählt und kommentiert werden.

Die Environmental Protection Agency (EPA) hat 1992 einen sorgfältigen Bericht (31) „Respiratory Health Effects of Passive Smoking: Lung Cancer and other Disorders“ publiziert. Sie hat von den bis dahin vorliegenden Studien 4 Kohortenstudien und 28 Fall?Kontroll-Studien einbezogen. Die EPA kam zu dem Schluß, daß die weitverbreitete Exposition mit ETS in den USA einen ernstzunehmenden Einfluß auf die Gesundheit der Bevölkerung hat. Der wesentliche zusammenfassende Satz lautet: „ETS ist ein Lungenkarzinogen, das für den Tod von ungefähr 3000 Lungenkrebstoten pro Jahr in den USA verantwortlich ist.“

Der EPA?Bericht wurde von namhaften Epidemiologen kritisiert, z.B. von Feinstein im Toxicology Forum 1993 (32). Beispielhaft werden hier einige wesentliche Argumente von Feinstein und anderen (33) wiedergegeben: Es gibt keine Konsistenz der Assoziationen, die Studien kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen, manche zu positiven, manche zu negativen Assoziationen. Einige Studien, die ein negatives Ergebnis hatten, z.B. die von Varela, wurden nicht berücksichtigt. Die Stärke der Assoziation ist klein, die OR liegt meist unter 2. Als Signifikanzniveau wurde statt 5% 10% gewählt. In der Metaanalyse wäre nichts mehr signifikant bei einem korrekten zweiseitigen Signifikanzniveau von 5%. Die ORs sind nach Ländern deutlich unterschiedlich. Die wichtigsten Quellen von Bias wurden nicht berücksichtigt. Es wurden sehr unterschiedliche Studien zusammengefaßt. Die Ungenauigkeit der histologischen Typisierung wurde nicht berücksichtigt. Wenn man drei Studien in die Metaanalyse aufnimmt, die die EPA herausgelassen haben und nur die methodisch besseren Studien berücksichtigt, verschwindet der signifikante Effekt, weil die methodisch schlechteren Studien die höheren ORs aufweisen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das Ergebnis des EPA-Berichts nach meinem Urteil nicht überzeugend für den Nachweis eines kausalen Zusammenhangs zwischen ETS und Lungenkrebs. Die Hochrechnung auf 3000 Tote suggeriert, daß Menschen an ETS sterben, was erst bei einer belegten Kausalität der Fall wäre, die es gerade durch die Metaanalyse erst zu beweisen galt. Dieser Zirkelschluß erschwert das Nachdenken über die Validität der Beziehung, stempelt gegenteilige Meinungen als „politically incorrect“ ab und erschwert neue Untersuchungen.

Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) hat in einer Pressemitteilung 1992 mitgeteilt (34), daß Passivrauchen tödlich sein kann und daß jährlich 400 Menschen, die selbst nicht rauchen, an Lungenkrebs sterben, deren Tod auf das Einatmen fremden Zigarettenrauchs zurückzuführen sei. In einer Publikation im Deutschen Ärzteblatt 1994 wurde die Hochrechnung aufgrund neuer Studien fortgeführt (35). Es wird eine durchschnittliche OR von 1,35 angenommen, und daraus werden für die Bundesrepublik erneut ungefähr 400 Todesfälle durch Lungenkrebs pro Jahr hochgerechnet.

Der Leser mit gesundem Menschenverstand mag sich fragen, warum nach zwei Jahren und neuen Studien wieder exakt 400 hochgerechnete Tote als Ergebnis herauskommen. Die angenommene durchschnittliche OR von 1,35 ist klein. Sie liegt in einem Bereich, in dem solchen „weak associations“ kaum kausale Bedeutung zukommt, da sie in dieser Größenordnung zu erwarten sind und da die Störeinflüsse größer sein können als der Effekt. Entscheidend ist jedoch, daß es sich um einen Zirkelschluß handelt. Daß ein kausaler Zusammenhang besteht, wird durch die Hochrechnung von Toten nicht bewiesen, die Kausalität wird dabei vielmehr vorausgesetzt, obwohl sie zweifelhaft ist. Wie beim EPA?Report wird das, was bewiesen werden soll, nicht bewiesen, sondern unterstellt. Eine solche Hochrechnung lenkt vom eigentlichen Thema ab und läßt Studien zur Frage des Kausalzusammenhangs als nicht mehr nötig erscheinen. Die Hochrechnung kann offenbar als ein Instrument der Autoren betrachtet werden, ihr Ziel zur Verbesserung der Welt zu erreichen, nämlich nachzuweisen, daß Passivrauchen Lungenkrebs hervorruft. Zum Kausalnachweis trägt die Hochrechnung nichts bei.

Die letzte Zusammenfassung epidemiologischer Studien ist die Publikation von Hackshaw, Law und Wald (36) im British Medical Journal vom Oktober 1997. Die Autoren fassen 5 Kohortenstudien und 32 Fall-Kontroll-Studien zusammen, in denen 4626 Lungenkrebsfälle von nichtrauchenden Frauen. die mit rauchenden Partnern zusammenleben, enthalten sind. Die durchschnittliche errechnete OR ist 1,24 (1,13 ? 1,36). Die Autoren kommen zum Schluß. daß ihre Untersuchung eine überzeugende Bestätigung dafür ist, daß das Einatmen von ETS Lungenkrebs verursacht. Die Studie ist sorgfältig und genau und benutzt teilweise kompliziere statistische Ansätze, die für den Laien schwer nachvollziehbar sind. Warum kann sie ebensowenig überzeugen wie die anderen, genannten Zusammenfassungen?

Zunächst ist festzuhalten, daß die Autoren seit Jahren kreuzzugartig und militant für die Verursachungshypothese „Passivrauchen macht Lungenkrebs“ eintreten. Sie verwenden ORs, die nicht adjustiert sind für Confounding und Bias. Das Ergebnis – eine OR von 1.24 – ist nicht besonders hoch und bei unadjustierten ORs als Ausgangsbasis fast zu erwarten. Ein substantieller Teil der einbezogenen Studien ist bei Anlegung stringenter wissenschaftlicher Kriterien nicht aussagefähig. Nur 7 der 37 Studien haben eine „signifikante“ OR. Für die Studien von Trichopoulos (10,11), Hirayama (12-15) und Fontham (22, 23) habe ich oben die Gründe angegeben. warum sie nicht tragen. Die anderen vier „signifikanten“ Studien sind aus China und Rußland. Einige Studien mit negativen Ergebnissen wurden von den Autoren durch die gewählten Aufnahmekriterien ausgeschlossen. Die Methodik der Zusammenfassung von 16 Studien mit Dosis ? Response – Informationen ist kompliziert und teilweise willkürlich. Sie führt notwendig zu einem signifikanten Ergebnis. Bei der Adjustierung für differentielle Mißklassifikation reduziert sich nach den Annahmen der Autoren die durchschnittliche OR auf 1,18 (1,06 ? 1,22). Geht man jedoch bei der Sensitivitätsanalyse von anderen Annahmen aus, die realistischer sind – 9% of ever smokers as never smokers und relative risk of lung cancer in misclassified smokers = 4 – so erhält man ein durchschnittliches relatives Risiko von 1,08 (0,95 ?1,22), das nicht mehr signifikant ist. Dies ist nach meiner Auffassung ebenso zu vereinbaren mit dem Datenmaterial und entspricht den tatsächlichen Verhältnissen im Ablauf der einbezogenen Studie. Die Korrektur für Confounding durch die Ernährung müßte damit kombiniert werden und würde die durchschnittliche OR weiter reduzieren. Die OR für Aktivrauchen ist nach Angabe der Autoren 20. In der Terminologie der Publikation stehen einer Risiknerhöhung von 24 % beim Passivrauchen 2000 % beim Aktivrauchen gegenüber. Man befindet sich also in einem ganz anderen Risikobereich. Der Faktor zwischen Aktivrauchen und ETS ist ungefähr 100. Dies zeigt, daß es sich um grundsätzlich andere Verhältnisse handelt. Auch diese Zusammenfassung kann den skeptischen Methodiker, der strenge wissenschaftliche Kriterien anlegt und die Epidemiologie nicht als Mittel zur Verbesserung der Welt betreibt, nicht überzeugen.

Bewertung der epidemiologischen Evidenz zu Passivrauchen und Lungenkrebs

Die Annahme eines Kausalzusammenhangs wird durch die vorliegenden Studien nicht ausreichend gestützt. Die zahlreichen Gründe wurden im einzelnen dargelegt. Wir wissen letztlich nicht, ob ETS Lungenkrebs hervorruft und wenn ja. in welchem Umfang. Eine Mehrheit von Experten glaubt heute an einen kausalen Zusammenhang. Eine Minderheit, die sich auf striktere Kriterien der Wissenschaft beruft und zu der ich gehöre. glaubt daran nicht.

Soweit sich die Epidemiologie als Wissenschaft begreift und nicht in erster Linie die Verbesserung der Welt durch die Verminderung kleiner Risiken im Auge hat, muß sie die Nullhypothese weiter beibehalten. Natürlich kann man – wie immer bei Beibehaltung der Nullhypothese nicht ausschließen, daß ETS in seltenen Fällen Lungenkrebs hervorruft.

Der Kausalzusammenhang ist weiter strittig. Mit einer Kausalaussage würde die wissenschaftliche Epidemiologie die Grenze der Erkennbarkeit, die durch ihre Methoden bestimmt ist, nach meiner Meinung überschreiten.

Das Risiko, sofern es besteht, ist sicher klein. Für die gesunde Bevölkerung kann ich bei der heute gegebenen ETS-Belastung in öffentlichen Räumen und am Arbeitsplatz in Verbindung mit wechselseitiger Toleranz ein nennenswert erhöhtes Risiko, durch ETS Lungenkrebs zu bekommen, nicht erkennen. Natürlich ist eine Belästigung gegeben. Für spezielle Gruppen, z.B. Kinder mit Asthma, gibt es deutliche Risikoerhöhungen; dies gilt ,aber nicht für Lungenkrebs.

Die Kriterien für die Annahme der Kausalität nach Bradford – Hill (9) sind durchweg nicht erfüllt oder umstritten. Die Konsistenz der Studien und die Stärke der Assoziation sind nicht gegeben. die Spezifität fehlt, Exposition und outcome sind nicht reliabel und valide bestimmt, die wichtigsten Bias-Ursachen und Confounders sind nicht hinreichend ausgeschlossen, ein Interventionseffekt ist nicht vorhanden.

Der Streit, ob Passivrauchen Lungenkrebs hervorruft oder nicht. ist in mancher Hinsicht fiktiv und findet in unrealistischen und virtuellen Bezugssystemen statt. Es gibt wesentlich höhere Risiken, z. B. durch Infektionen, durch den Lebensstil (Rauchen, Essen und Trinken), durch Alkoholkonsum und andere. Auch manche fremdbestimmte Risiken für Unschuldige sind konkreter faßbar und teilweise höher, wie Unfälle, die unschuldige Verkehrsteilnehmer treffen und durch Alkoholeinfluß bei anderen Fahrern hervorgerufen werden.

Es ist für Wissenschaftler auf Dauer gefährlich, in Kreuzzüge verwickelt zu werden, die nicht von soliden wissenschaftlichen Fakten getragen sind. Die kleinen Risikoerhöhungen durch ETS mit einer OR von 1,18 oder 1,20, wie sie beispielsweise in der Arbeit von Hackshaw, Law und Wald im BMJ (36) errechnet werden, kommen durch erhöhte Exposition zu Hause oder am Arbeitsplatz zustande und nicht durch Exposition in öffentlichen Räumen. Daraus ein Rauchverbot in öffentlichen Räumen abzuleiten ist gewagt.

Zudem dreht es sich beim Rauchen offenkundig nicht nur um die wissenschaftliche Wahrheit, sondern vor allem um Einfluß, Macht und Geld, wie die Prozesse in den USA über hohe Summen gegen die Zigarertenherstel1er und das Platzen der Vereinbarungen zwischen Herstellern und Politik in den USA zeigen. Bei der Kontroverse um die Verursachung von Lungenkrebs durch ETS handelt es sich heute in erster Linie um politische, gesellschaftliche und finanzielle Meinungsverschiedenheiten und weniger um eine wissenschaftliche Entscheidung, die noch lange offen bleiben wird, Man könnte daher auch gleich unter politischen, gesellschaftlichen oder finanziellen Gesichtspunkten entscheiden. wie im Deutschen Bundestag vor kurzem geschehen. Die Wissenschaft sollte nicht von den beiden gegnerischen Lagern dazu instrumentalisiert werden, die gewünschten Ergebnisse vorzulegen.

K. Überla

Fortschreibung und Überarbeitung eines Vortrags vom 17.6.1997 auf Einladung des Peutinger-Collegs München

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Dipl .psych. Karl Überla, Institut und Lehrstuhl für Med. Informationsverarbeitung. Biometrie und Epidemiologie der LMU, Marchioninisrr. 15 . 81377 München

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